DAS GEHEIMNIS DES TOTENWALDES
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1. Teil, ARD, 02.12.2020, 20:15 Uhr
1. Teil, ARD, 03.12.2020, 00:25 Uhr / 2. Teil, ARD, 05.12.2020, 20:15 Uhr
2. Teil, ARD, 06.12.2020, 01:15 Uhr / 3. Teil, ARD, 09.12.2020, 20:15 Uhr
3. Teil, ARD, 10.12.2020, 00:25 Uhr
Rainer Tittelbach
Sommer 1989, zwei Doppelmorde in der niedersächsischen Provinz – und dann verschwindet auch noch eine Fabrikantengattin spurlos, die Schwester des Hamburger LKA-Chefs. Der würde gern mit ermitteln, doch das verbietet das Gesetz. Es folgen Ermittlungsfehler und falsche Verdächtige – bis über zwei Jahrzehnte später der Ex-Beamte mit über 70 mit einer Privat-Soko den Fall neu aufrollt. „Das Geheimnis im Totenwald“ (Degeto / Bavaria Fiction, Conradfilm) erzählt über eine Zeitspanne von fast 30 Jahren eine schier unglaubliche Kriminalgeschichte, der ein kapitaler Polizei- und Justizskandal zugrunde liegt. Der ARD-Dreiteiler wurde mehr als nur inspiriert von einem realen Fall: Der ehemalige Hamburger LKA-Chef Wolfgang Sielaff hat fast genau das erlebt und erlitten, was in dem Film von Sven Bohse (Regie) und Stefan Kolditz (Buch) der von Matthias Brandt preiswürdig verkörperten Hauptfigur passiert. Der jahrzehntelange Weg ist elementarer Bestandteil der Geschichte. Die dramaturgischen Herausforderungen, die sich daraus ergeben, meistert der Film überragend: Das Mehr an Zeit erhöht die Spannung im Sinne von Neugier, Anteilnahme & Mitgefühl. Die Schauspieler sind durchweg großartig, die Charaktere wirken wie echte Menschen, ohne dass es je menschelt in diesem exzellent inszenierten Film, der bei aller narrativer Emotionalität den Zuschauer filmästhetisch eher auf Distanz hält. Grundlage dieses packenden Dreiteilers ist Kolditz‘ perfekt strukturiertes, psychologisch vorzüglich verdichtetes Drehbuch, das die Chronologie der Ereignisse und die Tiefe der Charaktere gleichermaßen im Blick behält.
Den Kommissaren & dem Staatsanwalt unterlaufen folgenschwere Ermittlungsfehler
Sommer
1989, zwei Doppelmorde in der niedersächsischen Provinz hält die
Polizei in Atem. Da bleibt Kommissar Jan Gerke (August Wittgenstein) und
seiner neuen Kollegin Anne Bach (Karoline Schuch) wenig Zeit für einen
vermeintlich harmloseren Fall: Im benachbarten Städtchen Weeseburg ist
die Fabrikantengattin Barbara Neder (Silke Bodenbender) verschwunden.
Sie ist nicht nur die Noch-Ehefrau von Robert Neder (Nicholas Ofczarek),
dem wohlhabendsten Unternehmer im Ort, sondern auch die Schwester des
Hamburger LKA-Chefs Thomas Bethge (Matthias Brandt). Der würde bei dem
Fall gern mit ermitteln, doch der deutsche Föderalismus verbietet ihm
das – zum Leidwesen auch seiner Mutter (Hildegard Schmahl), seiner
Nichte (Janina Fautz) und seines Schwagers. Robert ist für die
überforderten Provinzermittler bald der einzige Verdächtige. Ein Motiv
hat er tatsächlich: Er hat sich von Barbara wegen einer anderen Frau
(Anne Werner) getrennt – und die geplante Scheidung wird teuer. In
beiden Fällen unterlaufen den Kommissaren und der Staatsanwaltschaft in
Weeseburg folgenschwere Ermittlungsfehler. Allein die junge Kollegin
Bach, die den Friedhofsgärtner Jürgen Becker (Hanno Koffler) für den
möglichen Täter hält, versucht, den Versäumnissen ihrer Kollegen etwas
entgegenzusetzen. Aber gegen diese Macho-Arroganz kommt sie nicht an.
Heimlich verbündet sie sich mit Bethge, der große Stücke auf sie hält.
Dass die Doppelmorde im „Totenwald“, die einem Selbstmörder
zugeschrieben wurden, etwas mit Neders Verschwinden zu tun haben könnten
– darauf kommt aber auch sie erst Jahre später.
Nach Tatsachen: drei Jahrzehnte Bangen & Hoffen – und die Familie im Nacken
„Das
Geheimnis im Totenwald“ erzählt über eine Zeitspanne von fast 30 Jahren
eine schier unglaubliche Kriminalgeschichte, der ein kapitaler Polizei-
und Justizskandal zugrunde liegt. Der ARD-Dreiteiler wurde dabei mehr
als nur inspiriert von einem realen Fall: Der ehemalige Hamburger
LKA-Chef Wolfgang Sielaff hat fast genau das erlebt und erlitten, was in
dem Film von Sven Bohse (Regie) und Stefan Kolditz (Buch) dem von
Matthias Brandt preiswürdig verkörperten Thomas Bethge passiert. Drei
Jahrzehnte ein ewiges Bangen und Hoffen, drei Jahrzehnte voller
Ermittlerpannen und staatsanwaltlicher Peinlichkeiten, drei Jahrzehnte
voller Gewissenbisse, Ohnmachtserfahrungen und unbeantworteter Fragen.
Und immer die Familie und der eigene Anspruch im Nacken. „Barbara lebt,
Du musst sie nur finden, Thomas“, setzt seine alte Mutter den hohen
Beamten ohne Lizenz zum Ermitteln unter Druck. Diese Situation, nichts
tun zu können, warten müssen statt handeln, das nagt am Selbstbild des
erfolgreichen LKA-Chefs. „Es ist ein seltsames Gefühl, wenn man nicht mehr
alles unter Kontrolle hat“, bringt es ein Mordverdächtiger, der etwas
mit dem Verschwinden der Schwester zu tun haben könnte, auf den Punkt.
Aber Bethge ist halsstarrig und zäh. Nachdem fast zwei Jahrzehnte
ermittlungstechnisch nichts passiert ist in dem Fall, seine Mutter
verstorben ist, macht er sich – längst im Ruhestand – mit Mitte 70
selbst an die Ermittlungen, gemeinsam mit Anne Bach, mittlerweile
erfolgreiche Polizeipsychologin, und einem alten Weggefährten (Andreas
Lust). Auch das entspricht den Tatsachen. Sielaff allerdings hatte eine
um einiges größere, hochkarätigere Privat-Soko ins Leben gerufen.
„Der reale Fall bot eine Vielzahl irrwitziger Details und besonderer Bilder:
ein großes Waldgebiet, in dem getötet wird, ein zweiter Doppelmord an
einem Liebespaar quasi vor den Augen der Polizei, während sie gerade den
ersten Doppelmord untersuchen, eine Tochter, die ihren Vater als
verdächtigen Mörder ihrer Mutter wahrnimmt, ein im Garten vergrabenes
Auto, ein Galgen in einer Garage, ein Friedhofsgärtner, der mit einer
ehemaligen Schönheitskönigin verheiratet ist, ein sadistischer
Serienmörder, der über Jahrzehnte unentdeckt morden konnte und ein
verdächtiger, aber bis heute nicht überführter mutmaßlicher
Mittäter.“ (Christian Granderath, NDR-Fernsehfilm-Chef)
Rollenkollision des tragischen Helden: gesetzestreuer Beamter vs. liebender Bruder
Bethge
bleibt bis zum Ende seiner eigenen Ermittlungen stets ein loyaler
Beamter, der dem Rechtsstaat treu ergeben ist. Selbst gegenüber den
Beamten der ländlichen Dienststelle, denen die Minderwertigkeitskomplexe
deutlich anzumerken sind, verhält er sich korrekt. Die Kollision des
LKA-Mannes mit seiner Rolle in der Familie macht einen Großteil des
tragischen Dilemmas dieser Figur aus. „Ich glaube, die Gebremstheit
Bethges erwächst aus dem inneren Konflikt zu wissen, wie es besser
ginge, dafür aber das System in Frage stellen zu müssen, dessen
herausgehobener Repräsentant er ist“, so Matthias Brandt. Aufgeben aber
ist keine Option für diesen Mann. „Wenn man sich stark darüber
definiert, ein sehr guter Polizist zu sein, dann hieße das Aufgeben
nicht nur, diesen besonderen Fall seiner Schwester aufzugeben, es wäre
gewissermaßen auch die Aufgabe eines Lebenskonstrukts und eines Bilds,
das man von sich selbst hat.“ Und so macht er fleißig und pflichtbewusst
weiter. Mit Mitte 70 platzt dem Mann, der noch von der Kriegsgeneration
geprägt wurde, endlich mal der Kragen („Sie verstehen nichts!“). Brandt
findet auch mit Altersmaske den passenden Ausdruck für diesen
hanseatischen Beamten. Der Schmerz, der ihm das ungewisse Schicksal
seiner Schwester seit Jahrzehnten bereitet, geht nun noch deutlicher in
die Körpersprache ein: Bethge, dieser immer schon etwas spröde,
gebremste Charakter kann im Alter seine Verunsicherung nicht mehr so gut
verbergen, da er sich nicht mehr
hinter der Autorität seines Amtes verstecken kann. Die Zeit heilt in
diesem Fall die Wunden nicht. Das gilt auch für den nach fast 30 Jahren
immer noch mordverdächtigen Schwager Bethges. Nicholas Ofczarek spielt
ihn als gebrochenen Hüne, anfangs wütend, später nur noch depressiv und
stumm.
Soundtrack: Simply Red („If You Don’t Know Me By Now“), Eric Carmen („Hungry Eyes“), Aretha Franklin („I Say A Little Prayer“), Eros Ramazotti („Se Bastasse una canzone“), Nirvana („Come As You Are“), Frankie goes to Hollywood („The Power of Love“), Kim Wilde („You Keep Me Hanging On“)
Gesellschaftlicher Zeithorizont. „Alle Figuren sind zunächst gefangen in ihren typischen Rollen und in bestimmten Systemen … Wir erzählen auch eine Parabel darüber, was in hierarchisch strukturierten Apparaten schieflaufen kann … Und der Film ist auch ein Sittengemälde der Nachkriegsgeneration. Trauer und Probleme werden verdrängt.“ (Sven Bohse, Regisseur)
„In der Geschichte gibt es einen fast unsichtbaren Unterbau: die Dualität zwischen Bethge und Becker. Beide kommen aus einer Zeit unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs und erleben dort ihre Sozialisation. Der unter Verdacht stehende Jürgen Becker ist ganz klar nationalsozialistisch erzogen worden. Zwei Menschen, die verbunden sind über ein Verbrechen und die unterschiedlicher nicht sein könnten und die beide einen Teil von dieser Bundesrepublik repräsentieren. Der eine, der dezidiert eine demokratische und empathische Haltung einnimmt, und der andere, der seine narzisstischen und sadistischen Impulse auslebt.“ (Stefan Kolditz, Drehbuchautor)
Bei aller Emotionalität hält der Film ästhetisch eine angenehme Distanz zum Zuschauer
Der
Zeitfaktor ist auch für die Inszenierung entscheidend. „Über die
Bildsprache wollten der Kameramann Michael Schreitel und ich in
bestimmten Momenten auch diesen Stillstand erzählen, dieses Gefühl, dem
Lauf der Dinge machtlos gegenüberzustehen“, sagt Regisseur Sven Bohse
(„Ku’damm 56+59“). Im Ergebnis ist „Das Geheimnis des Totenwaldes“ ein
exzellent inszenierter Film geworden, der bei aller narrativer
Emotionalität den Zuschauer filmisch eher auf Distanz hält mit einem
zurückhaltenden, wortarmen Spiel, einem „modernen Retrolook“ und
„epischen Erzählgefühl“ (Bohse) und mit einem eher flächigen, anfangs
atmosphärischen, später stärker die Spannung akzentuierendem Score von
Komponist Travis Stewart („Black Swan“). Es gibt allerdings auch ein
paar hoch dramatische Momente. Vor dem Ende des ersten Teils werden vier
Schauplätze via Montage miteinander kurzgeschlossen. Die Spannung
steigt und steigt – bis zum großen Knall: ein Suizid mit Ansage, ein
schockhaftes Blutbad im Gerichtssaal. Die von der Realität geprägte
Geschichte lässt sich zwischendurch also auch einmal auf den Serien-Code
von Netflix & Co ein. Diese Sequenz sticht deutlich hervor aus dem
sonst eher analytischen Film, setzt ein Ausrufezeichen hinter die
Ereignisse von 1989 und ist ein vorläufiger Endpunkt. Ob man diesen
Effekt braucht? Geschmackssache.
Das Mehr an Erzählzeit verstärkt beim Zuschauer Neugier, Anteilnahme & Mitgefühl
Ein
Krimi nach Tatsachen, noch dazu ein Dreiteiler, funktioniert nach
besonderen dramaturgischen Regeln. Wer die Sielaff-Göhrde-Geschichten
aus der Presse kennt, wer die Vorabreportagen zu diesem TV-Event gelesen
hat – für den ergibt sich gewiss ein etwas anderer Zugang zu „Das
Geheimnis des Totenwaldes“ als für einen nicht vorinformierten
Zuschauer. Für die unbedarften Krimifreunde hält Autor Kolditz noch eine
gewisse Whodunit-Spannung aufrecht, kommt mit mehreren Verdächtigen und
sorgt für mitunter knackige Cliffhanger für die 6-x-45-minütige
Miniserien-Fassung des Dreiteilers, bevor nach 120 Minuten endgültig die
Katze aus dem Sack gelassen wird. Ab da spätestens sind für jeden
Zuschauer die Wie-Fragen von Interesse: Wie (oder warum nicht!) kommen die Ermittler dem Täter auf die Spur? Wie geht die Familie mit der Ungewissheit um? Wie
hängen die beiden Fälle zusammen? Anders als in kurzatmigeren
Spannungsfilmen erhöht das Mehr an Erzählzeit in diesem Dreiteiler die
„Spannung“ im Sinne von Neugier, Anteilnahme und Mitgefühl. Die klare,
finale Fragestellung erleichtert darüber hinaus den emotionalen Flow.
Die Filmdauer verlängert die Leidensgeschichte und damit das
Schmerzpotenzial des (Familien-)Dramas für den Zuschauer, weil man sich
in die Charaktere besser einfühlen, ja geradezu einleben
kann. Der (jahrzehnte-)lange Weg der Ermittlungen ist ein wesentlicher
Bestandteil der Geschichte. Dramaturgisch ist das eine besondere
Herausforderung. In der Theorie. In der Praxis aber kommt Vieles
zusammen, was die Bedenken zerstreut. Neben dem bereits erwähnten
Empathie-Effekt sehen wir großartige Schauspieler und bekommen es mit
Charakteren zu tun, die wie echte Menschen agieren, ohne dass es
menschelt. Grundlage dieses packenden Dreiteilers ist das perfekt
strukturierte, psychologisch vorzüglich verdichtete Drehbuch, das die
Chronologie der Ereignisse und die Tiefe der Charaktere gleichermaßen im
Blick behält. Und so lässt einen als Zuschauer – ähnlich wie die
Ermittler – die Frage nicht mehr los: „Wo ist Barbara und was ist mit ihr passiert?“. (Text-Stand: 15.11.2020)
Rainer Tittelbach arbeitet als TV-Kritiker & Medienjournalist. Er war 25 Jahre Grimme-Juror, ist FSF-Prüfer und betreibt seit 2009 tittelbach.tv. Mehr
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„Das Geheimnis des Totenwaldes“
NDR, Degeto / Mehrteiler / zeitgeschichtliches Krimi-Drama
EA: ab 2.12.2020, 20.15 Uhr (ARD)
Mit Matthias Brandt, Karoline Schuch, August Wittgenstein, Nicholas Ofczarek, Silke Bodenbender, Hanno Koffler, Jenny Schily, Anne Werner, Janina Fautz, Hildegard Schmahl, Andreas Lust, Mirco Kreibich, Karsten Antonio Mielke
Drehbuch: Stefan Kolditz
Regie: Sven Bohse
Kamera: Michael Schreitel
Szenenbild: Oliver Hoese
Kostüm: Maria Schicker
Schnitt: Julia Karg, Kai Minierski
Musik: Travis Stewart
Redaktion: Christian Granderath, Sabine Holtgreve (beide NDR), Carolin Haasis (Degeto)
Produktionsfirma: Bavaria Fiction, Conradfilm – Marc Conrad, Maren Knieling, Jan S. Kaiser
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