DAS GEHEIMNIS DES TOTENWALDES

Am 27. November 2020 in Artikel

http://www.tittelbach.tv/programm/mehrteiler/artikel-5674.html

1. Teil, ARD, 02.12.2020, 20:15 Uhr
1. Teil, ARD, 03.12.2020, 00:25 Uhr / 2. Teil, ARD, 05.12.2020, 20:15 Uhr
2. Teil, ARD, 06.12.2020, 01:15 Uhr / 3. Teil, ARD, 09.12.2020, 20:15 Uhr
3. Teil, ARD, 10.12.2020, 00:25 Uhr

Rainer Tittelbach
Sommer 1989, zwei Doppelmorde in der niedersächsischen Provinz – und dann verschwindet auch noch eine Fabrikantengattin spurlos, die Schwester des Hamburger LKA-Chefs. Der würde gern mit ermitteln, doch das verbietet das Gesetz. Es folgen Ermittlungsfehler und falsche Verdächtige – bis über zwei Jahrzehnte später der Ex-Beamte mit über 70 mit einer Privat-Soko den Fall neu aufrollt. „Das Geheimnis im Totenwald“ (Degeto / Bavaria Fiction, Conradfilm) erzählt über eine Zeitspanne von fast 30 Jahren eine schier unglaubliche Kriminalgeschichte, der ein kapitaler Polizei- und Justizskandal zugrunde liegt. Der ARD-Dreiteiler wurde
mehr als nur inspiriert von einem realen Fall: Der ehemalige Hamburger LKA-Chef Wolfgang Sielaff hat fast genau das erlebt und erlitten, was in dem Film von Sven Bohse (Regie) und Stefan Kolditz (Buch) der von Matthias Brandt preiswürdig verkörperten Hauptfigur passiert. Der jahrzehntelange Weg ist elementarer Bestandteil der Geschichte. Die dramaturgischen Herausforderungen, die sich daraus ergeben, meistert der Film überragend: Das Mehr an Zeit erhöht die Spannung im Sinne von Neugier, Anteilnahme & Mitgefühl. Die Schauspieler sind durchweg großartig, die Charaktere wirken wie echte Menschen, ohne dass es je menschelt in diesem exzellent inszenierten Film, der bei aller narrativer Emotionalität den Zuschauer filmästhetisch eher auf Distanz hält. Grundlage dieses packenden Dreiteilers ist Kolditz‘ perfekt strukturiertes, psychologisch vorzüglich verdichtetes Drehbuch, das die Chronologie der Ereignisse und die Tiefe der Charaktere gleichermaßen im Blick behält.

Den Kommissaren & dem Staatsanwalt unterlaufen folgenschwere Ermittlungsfehler
Sommer 1989, zwei Doppelmorde in der niedersächsischen Provinz hält die Polizei in Atem. Da bleibt Kommissar Jan Gerke (August Wittgenstein) und seiner neuen Kollegin Anne Bach (Karoline Schuch) wenig Zeit für einen vermeintlich harmloseren Fall: Im benachbarten Städtchen Weeseburg ist die Fabrikantengattin Barbara Neder (Silke Bodenbender) verschwunden. Sie ist nicht nur die Noch-Ehefrau von Robert Neder (Nicholas Ofczarek), dem wohlhabendsten Unternehmer im Ort, sondern auch die Schwester des Hamburger LKA-Chefs Thomas Bethge (Matthias Brandt). Der würde bei dem Fall gern mit ermitteln, doch der deutsche Föderalismus verbietet ihm das – zum Leidwesen auch seiner Mutter (Hildegard Schmahl), seiner Nichte (Janina Fautz) und seines Schwagers. Robert ist für die überforderten Provinzermittler bald der einzige Verdächtige. Ein Motiv hat er tatsächlich: Er hat sich von Barbara wegen einer anderen Frau (Anne Werner) getrennt – und die geplante Scheidung wird teuer. In beiden Fällen unterlaufen den Kommissaren und der Staatsanwaltschaft in Weeseburg folgenschwere Ermittlungsfehler. Allein die junge Kollegin Bach, die den Friedhofsgärtner Jürgen Becker (Hanno Koffler) für den möglichen Täter hält, versucht, den Versäumnissen ihrer Kollegen etwas entgegenzusetzen. Aber gegen diese Macho-Arroganz kommt sie nicht an. Heimlich verbündet sie sich mit Bethge, der große Stücke auf sie hält. Dass die Doppelmorde im „Totenwald“, die einem Selbstmörder zugeschrieben wurden, etwas mit Neders Verschwinden zu tun haben könnten – darauf kommt aber auch sie erst Jahre später.

Nach Tatsachen: drei Jahrzehnte Bangen & Hoffen – und die Familie im Nacken
„Das Geheimnis im Totenwald“ erzählt über eine Zeitspanne von fast 30 Jahren eine schier unglaubliche Kriminalgeschichte, der ein kapitaler Polizei- und Justizskandal zugrunde liegt. Der ARD-Dreiteiler wurde dabei mehr als nur inspiriert von einem realen Fall: Der ehemalige Hamburger LKA-Chef Wolfgang Sielaff hat fast genau das erlebt und erlitten, was in dem Film von Sven Bohse (Regie) und Stefan Kolditz (Buch) dem von Matthias Brandt preiswürdig verkörperten Thomas Bethge passiert. Drei Jahrzehnte ein ewiges Bangen und Hoffen, drei Jahrzehnte voller Ermittlerpannen und staatsanwaltlicher Peinlichkeiten, drei Jahrzehnte voller Gewissenbisse, Ohnmachtserfahrungen und unbeantworteter Fragen. Und immer die Familie und der eigene Anspruch im Nacken. „Barbara lebt, Du musst sie nur finden, Thomas“, setzt seine alte Mutter den hohen Beamten ohne Lizenz zum Ermitteln unter Druck. Diese Situation, nichts tun zu können, warten müssen statt handeln, das nagt am Selbstbild des erfolgreichen LKA-Chefs. „Es ist ein seltsames Gefühl, wenn man nicht mehr alles unter Kontrolle hat“, bringt es ein Mordverdächtiger, der etwas mit dem Verschwinden der Schwester zu tun haben könnte, auf den Punkt. Aber Bethge ist halsstarrig und zäh. Nachdem fast zwei Jahrzehnte ermittlungstechnisch nichts passiert ist in dem Fall, seine Mutter verstorben ist, macht er sich – längst im Ruhestand – mit Mitte 70 selbst an die Ermittlungen, gemeinsam mit Anne Bach, mittlerweile erfolgreiche Polizeipsychologin, und einem alten Weggefährten (Andreas Lust). Auch das entspricht den Tatsachen. Sielaff allerdings hatte eine um einiges größere, hochkarätigere Privat-Soko ins Leben gerufen.

Der reale Fall bot eine Vielzahl irrwitziger Details und besonderer Bilder:
ein großes Waldgebiet, in dem getötet wird, ein zweiter Doppelmord an einem Liebespaar quasi vor den Augen der Polizei, während sie gerade den ersten Doppelmord untersuchen, eine Tochter, die ihren Vater als verdächtigen Mörder ihrer Mutter wahrnimmt, ein im Garten vergrabenes Auto, ein Galgen in einer Garage, ein Friedhofsgärtner, der mit einer ehemaligen Schönheitskönigin verheiratet ist, ein sadistischer Serienmörder, der über Jahrzehnte unentdeckt morden konnte und ein verdächtiger, aber bis heute nicht überführter mutmaßlicher Mittäter.“      (Christian Granderath, NDR-Fernsehfilm-Chef)


Rollenkollision des tragischen Helden: gesetzestreuer Beamter vs. liebender Bruder
Bethge bleibt bis zum Ende seiner eigenen Ermittlungen stets ein loyaler Beamter, der dem Rechtsstaat treu ergeben ist. Selbst gegenüber den Beamten der ländlichen Dienststelle, denen die Minderwertigkeitskomplexe deutlich anzumerken sind, verhält er sich korrekt. Die Kollision des LKA-Mannes mit seiner Rolle in der Familie macht einen Großteil des tragischen Dilemmas dieser Figur aus. „Ich glaube, die Gebremstheit Bethges erwächst aus dem inneren Konflikt zu wissen, wie es besser ginge, dafür aber das System in Frage stellen zu müssen, dessen herausgehobener Repräsentant er ist“, so Matthias Brandt. Aufgeben aber ist keine Option für diesen Mann. „Wenn man sich stark darüber definiert, ein sehr guter Polizist zu sein, dann hieße das Aufgeben nicht nur, diesen besonderen Fall seiner Schwester aufzugeben, es wäre gewissermaßen auch die Aufgabe eines Lebenskonstrukts und eines Bilds, das man von sich selbst hat.“ Und so macht er fleißig und pflichtbewusst weiter. Mit Mitte 70 platzt dem Mann, der noch von der Kriegsgeneration geprägt wurde, endlich mal der Kragen („Sie verstehen nichts!“). Brandt findet auch mit Altersmaske den passenden Ausdruck für diesen hanseatischen Beamten. Der Schmerz, der ihm das ungewisse Schicksal seiner Schwester seit Jahrzehnten bereitet, geht nun noch deutlicher in die Körpersprache ein: Bethge, dieser immer schon etwas spröde, gebremste Charakter kann im Alter seine Verunsicherung nicht mehr so gut verbergen, da er sich nicht mehr hinter der Autorität seines Amtes verstecken kann. Die Zeit heilt in diesem Fall die Wunden nicht. Das gilt auch für den nach fast 30 Jahren immer noch mordverdächtigen Schwager Bethges. Nicholas Ofczarek spielt ihn als gebrochenen Hüne, anfangs wütend, später nur noch depressiv und stumm.

Soundtrack: Simply Red („If You Don’t Know Me By Now“), Eric Carmen („Hungry Eyes“), Aretha Franklin („I Say A Little Prayer“), Eros Ramazotti („Se Bastasse una canzone“), Nirvana („Come As You Are“), Frankie goes to Hollywood („The Power of Love“), Kim Wilde („You Keep Me Hanging On“)

Gesellschaftlicher Zeithorizont. „Alle Figuren sind zunächst gefangen in ihren typischen Rollen und in bestimmten Systemen … Wir erzählen auch eine Parabel darüber, was in hierarchisch strukturierten Apparaten schieflaufen kann … Und der Film ist auch ein Sittengemälde der Nachkriegsgeneration. Trauer und Probleme werden verdrängt.“                                    (Sven Bohse, Regisseur)

„In der Geschichte gibt es einen fast unsichtbaren Unterbau: die Dualität zwischen Bethge und Becker. Beide kommen aus einer Zeit unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs und erleben dort ihre Sozialisation. Der unter Verdacht stehende Jürgen Becker ist ganz klar nationalsozialistisch erzogen worden. Zwei Menschen, die verbunden sind über ein Verbrechen und die unterschiedlicher nicht sein könnten und die beide einen Teil von dieser Bundesrepublik repräsentieren. Der eine, der dezidiert eine demokratische und empathische Haltung einnimmt, und der andere, der seine narzisstischen und sadistischen Impulse auslebt.“         (Stefan Kolditz, Drehbuchautor)

Bei aller Emotionalität hält der Film ästhetisch eine angenehme Distanz zum Zuschauer
Der Zeitfaktor ist auch für die Inszenierung entscheidend. „Über die Bildsprache wollten der Kameramann Michael Schreitel und ich in bestimmten Momenten auch diesen Stillstand erzählen, dieses Gefühl, dem Lauf der Dinge machtlos gegenüberzustehen“, sagt Regisseur Sven Bohse („Ku’damm 56+59“). Im Ergebnis ist „Das Geheimnis des Totenwaldes“ ein exzellent inszenierter Film geworden, der bei aller narrativer Emotionalität den Zuschauer filmisch eher auf Distanz hält mit einem zurückhaltenden, wortarmen Spiel, einem „modernen Retrolook“ und „epischen Erzählgefühl“ (Bohse) und mit einem eher flächigen, anfangs atmosphärischen, später stärker die Spannung akzentuierendem Score von Komponist Travis Stewart („Black Swan“). Es gibt allerdings auch ein paar hoch dramatische Momente. Vor dem Ende des ersten Teils werden vier Schauplätze via Montage miteinander kurzgeschlossen. Die Spannung steigt und steigt – bis zum großen Knall: ein Suizid mit Ansage, ein schockhaftes Blutbad im Gerichtssaal. Die von der Realität geprägte Geschichte lässt sich zwischendurch also auch einmal auf den Serien-Code von Netflix & Co ein. Diese Sequenz sticht deutlich hervor aus dem sonst eher analytischen Film, setzt ein Ausrufezeichen hinter die Ereignisse von 1989 und ist ein vorläufiger Endpunkt. Ob man diesen Effekt braucht? Geschmackssache. 

Das Mehr an Erzählzeit verstärkt beim Zuschauer Neugier, Anteilnahme & Mitgefühl
Ein Krimi nach Tatsachen, noch dazu ein Dreiteiler, funktioniert nach besonderen dramaturgischen Regeln. Wer die Sielaff-Göhrde-Geschichten aus der Presse kennt, wer die Vorabreportagen zu diesem TV-Event gelesen hat – für den ergibt sich gewiss ein etwas anderer Zugang zu „Das Geheimnis des Totenwaldes“ als für einen nicht vorinformierten Zuschauer. Für die unbedarften Krimifreunde hält Autor Kolditz noch eine gewisse Whodunit-Spannung aufrecht, kommt mit mehreren Verdächtigen und sorgt für mitunter knackige Cliffhanger für die 6-x-45-minütige Miniserien-Fassung des Dreiteilers, bevor nach 120 Minuten endgültig die Katze aus dem Sack gelassen wird. Ab da spätestens sind für jeden Zuschauer die Wie-Fragen von Interesse: Wie (oder warum nicht!) kommen die Ermittler dem Täter auf die Spur? Wie geht die Familie mit der Ungewissheit um? Wie hängen die beiden Fälle zusammen? Anders als in kurzatmigeren Spannungsfilmen erhöht das Mehr an Erzählzeit in diesem Dreiteiler die „Spannung“ im Sinne von Neugier, Anteilnahme und Mitgefühl. Die klare, finale Fragestellung erleichtert darüber hinaus den emotionalen Flow. Die Filmdauer verlängert die Leidensgeschichte und damit das Schmerzpotenzial des (Familien-)Dramas für den Zuschauer, weil man sich in die Charaktere besser einfühlen, ja geradezu einleben kann. Der (jahrzehnte-)lange Weg der Ermittlungen ist ein wesentlicher Bestandteil der Geschichte. Dramaturgisch ist das eine besondere Herausforderung. In der Theorie. In der Praxis aber kommt Vieles zusammen, was die Bedenken zerstreut. Neben dem bereits erwähnten Empathie-Effekt sehen wir großartige Schauspieler und bekommen es mit Charakteren zu tun, die wie echte Menschen agieren, ohne dass es menschelt. Grundlage dieses packenden Dreiteilers ist das perfekt strukturierte, psychologisch vorzüglich verdichtete Drehbuch, das die Chronologie der Ereignisse und die Tiefe der Charaktere gleichermaßen im Blick behält. Und so lässt einen als Zuschauer – ähnlich wie die Ermittler – die Frage nicht mehr los: „Wo ist Barbara und was ist mit ihr passiert?“. (Text-Stand: 15.11.2020)

Rainer Tittelbach arbeitet als TV-Kritiker & Medienjournalist. Er war 25 Jahre Grimme-Juror, ist FSF-Prüfer und betreibt seit 2009 tittelbach.tv. Mehr


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„Das Geheimnis des Totenwaldes“
NDR, Degeto / Mehrteiler / zeitgeschichtliches Krimi-Drama
EA: ab 2.12.2020, 20.15 Uhr (ARD)
Mit Matthias Brandt, Karoline Schuch, August Wittgenstein, Nicholas Ofczarek, Silke Bodenbender, Hanno Koffler, Jenny Schily, Anne Werner, Janina Fautz, Hildegard Schmahl, Andreas Lust, Mirco Kreibich, Karsten Antonio Mielke
Drehbuch: Stefan Kolditz
Regie: Sven Bohse
Kamera: Michael Schreitel
Szenenbild: Oliver Hoese
Kostüm: Maria Schicker
Schnitt: Julia Karg, Kai Minierski
Musik: Travis Stewart
Redaktion: Christian Granderath, Sabine Holtgreve (beide NDR), Carolin Haasis (Degeto)
Produktionsfirma: Bavaria Fiction, Conradfilm – Marc Conrad, Maren Knieling, Jan S. Kaiser


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