ALLE NADELN AN DER TANNE

Am 27. November 2020 in Artikel

http://www.tittelbach.tv/programm/fernsehfilm/artikel-5683.html

ZDF, 17.12.2020, 20:15 Uhr

Rainer Tittelbach
Diese Familie braucht einen Break! Dass ausgerechnet der Bruder der Hausherrin, der nach einem Unfall an einem schweren Schädel-Hirn-Trauma leidet – Persönlichkeitsstörung und Suizidphantasien inklusive – zum Retter mutiert, das ist zunächst nicht abzusehen. Einen gefühligen Weihnachtsfilm mit Schmerz, Herz und moralgesättigter Besinnlichkeit darf man dennoch nicht erwarten. „Alle Nadeln an der Tanne“ (ZDF / Conradfilm, Bavaria Fiction) ist eine Tragikomödie im besten Sinne. Die Wiener Schmäh erfahrenen Autoren Brée/Henning führen ihre komplexe Geschichte souverän durch die verschiedenen Tonlagen; Charaktere wie Handlung sind ihnen dabei gleichermaßen gut gelungen. Anna Loos, Marcus Mittermeier und Simon Schwarz danken es mit Glanzleistungen. Filmisch hat die Österreicherin Mirjam Unger das alles vortrefflich umgesetzt: Tragik voller Witz & Melancholie, Nähe ohne Kitsch, Tempo statt Tränen. Fazit: ein lebenskluger Film – nicht nur für die Weihnachtszeit.

Maria Koslowski (Anna Loos) weiß mal wieder nicht, wo ihr der Kopf steht. Ihr depperter Ehemann Kurt (Simon Schwarz) balanciert im Vorgarten auf der Leiter, damit es auch dieses Jahr wieder die weihnachtliche Festbeleuchtung gibt; derweil macht ihr Bruder auf einem Hochhausdach wenig Anstalten, das Gleichgewicht halten zu wollen. Moritz (Marcus Mittermeier), Fotograf und Weltenbummler, der jahrelang nichts von sich hören ließ, hatte bei einer seiner Auslandsreisen zuletzt einen Verkehrsunfall. Er trug ein schweres Schädel-Hirn-Trauma davon, welches eine unkontrollierte Persönlichkeitsstörung nach sich zog – Suizidgedanken inklusive. Seine Schwester, immer noch eng mit ihm verbunden, nimmt ihn in ihrer Familie auf. Eine Herkulesaufgabe ist das ohnehin, aber mit einem „Mister Baldrian“ an ihrer Seite, einer eigenwilligen Teenagertochter (Jana Münster), die in Neu-Delhi Gutes tun will, und einen Sohn (Leo Bilicky), der auf alles und jeden allergisch reagiert, dürfte der neue Alltag kaum zu stemmen sein. Denn neben Moritz‘ lichten Momenten, in denen sich beide nicht nur an ihren schrecklichen Vater (Michael A. Grimm) erinnern, sondern es ihnen auch gelingt, ein paar schöne Momente der gemeinsamen Kindheit und Jugend zurückzuholen, nehmen die Aussetzer bald zu. Die Suppe mit der Gabel löffeln ist nicht schlimm, aber sich hinters Steuer zu setzen oder seine Tabletten nicht zu nehmen, das kann tödlich sein.

Einen gefühligen Weihnachtsfilm mit Schmerz, Herz und moralgesättigter Besinnlichkeit darf man bei „Alle Nadeln an der Tanne“ nicht erwarten. Der Neunzigminüter von der auch im Dokumentarfilm reüssierenden Wiener Regisseurin Mirjam Unger („Vorstadtweiber“) gehört in die Kategorie Tragikomödie. Der Titel besitzt weniger vom Fest der Liebe, als man annehmen könnte, denn die Tannenbaum-Metapher findet Eingang in den Film mit dem Spruch: „Der hat wirklich nicht alle Nadeln an der Tanne“. Das Psycho-Syndrom ist tragisch, und diese dysfunktionale Familie gehört für gewöhnlich ins Drama-Fach, doch die erfahrenen Autoren, die ihre Drehbücher gern mit saftigem Schmäh veredeln, der Österreicher Rupert Henning (4x ORF-„Tatort“) und besonders der deutsche Wahl-Tiroler Uli Brée („Für dich dreh ich die Zeit zurück“), führen ihre Geschichte souverän durch die verschiedenen Tonlagen. Die Charaktere & die Handlung sind ihnen dabei gleichermaßen gut gelungen. Die vielschichtigen Hauptfiguren werden nicht umständlich erklärt, sondern definieren sich hautnah durch ihr auffälliges Verhalten. Maria benötigt ein Ventil für ihre kleinmütige Angepasstheit; die Affäre mit dem Nachbarn, der allerdings genauso langweilig ist wie ihr Mann – dieser Klassiker reicht ihr nicht: Dass sie andere Sehnsüchte hat als beispielsweise das spießige Ehepaar von nebenan, beweist ihre Lust, nachts heimlich Häuserwände mit Sprüchen („Scheiß drauf!“) zu besprayen. Einmal was Verbotenes tun! Ein Hauch von Rebellion, eine Prise Nervenkitzel. Zu mehr fehlt ihr der Mut. Lethargie meets Lebendigkeit – eine Top-Rolle für Anna Loos. 

Ihr Bruder ist anders. Der verließ im Teenageralter das Elternhaus, weil sein tyrannischer Vater ihn und sein früh entdecktes Talent fürs Fotografieren ständig nur heruntermachte. Moritz hat etwas gewagt, und er hat dadurch jahrelang viel gewonnen – auch wenn er eine gescheiterte Beziehung nicht verarbeitet hat und sie jetzt nicht mehr aus seinem kranken Kopf kriegt. Seine Schwester jedenfalls beneidet ihn darum, wie er seine Individualität ausgelebt hat. Gemeinsam beamen sie sich zwischen Moritz‘ Aussetzern und Alpträumen immer wieder zurück in die alten Zeiten – beide gemeinsam am See, der einem Einkaufszentrum weichen musste, die Augen-Blicke, in denen er schon damals die einseitige Fotogenität seiner Schwester erkannte, die gemeinsame Solidarität gegen den Vater. Diese guten Momente, die mit einer nächtlichen Spray-Aktion gekrönt werden, sind vor allem auch für Maria aufbauend. Die biestige Ironie, die sie sich als Schutzpanzer gegen ihre Familie zugelegt hat, weicht gesundem Humor („Ich hab langsam Übung im Hinterherlaufen“). Dabei verkennt sie schon mal den Ernst der Lage. Aber diese Geschichte ist – anders als in den vielen Weihnachts-Dramödien der letzten Jahre – nicht dazu da, alles und jeden zu retten. Und so fungiert Moritz in „Alle Nadeln an der Tanne“ weniger als wiedergewonnener Bruder, sondern vielmehr als Messias-Figur. Eine Szene im Krankenhaus, in dem seine Hirnströme gemessen werden, bringt es auf das passende Bild: Der Wirrwarr der Verdrahtungen nimmt die Gestalt einer Dornenkrone an: Der Heiland ist geboren, um dieser kaputten Familie Gutes zu tun.  

Die Macher taten gut daran, dem Heimkehrer, von Marcus Mittermeier in seiner Ambivalenz ebenso sensibel wie radikal verkörpert, ein eher diffuses Krankheitsbild zu geben. Dadurch wird die Krise dieses Mannes keineswegs verharmlost, das Syndrom wird aber auch nicht zu einem realen Krankheitsfall, wie ihn ein Themenfilm behandeln würde. Die Perspektive wird im Verlauf der Geschichte ohnehin stärker auf die Familie gelenkt. Bei Moritz kann man nur hoffen. Das Unglück von Maria, Kurt & Co dagegen ist keine Frage des Schicksals. Sie alle haben es selbst in der Hand. Zunächst wird die verlogene Festfassade eingerissen, dann scheint die indische Kultur „Erleuchtung“ zu bringen. Und so wird „Stille Nacht“ ersetzt durch Mantra-ähnliche Gesänge mit schrägen Sitar-Klängen. Ein V-Effekt, der die Richtung vorgibt: Diese Familie braucht ein Break! Das gilt besonders auch für den Dritten im Bunde: für Langweiler Kurt, unnachahmlich von Simon Schwarz verkörpert. Der schreibt Reiseführer, ohne dafür sein Haus je zu verlassen. „Alle Nadeln an der Tanne“ stellt keine Botschaften aus. Mehr Selbstreflexion, mehr Empathie und mehr Distanz zu den lächerlichen Regeln & Konventionen des Alltags – das aber ist nie verkehrt! Filmisch haben Unger, Loos & Co und die Gewerke alles sehr treffend umgesetzt: Witz, Tragik & Melancholie, Nähe ohne Kitsch, Tempo statt Tränen. Und auch das Szenenbild ist nicht nur sinnlich, sondern auch von narrativer Intelligenz: So ersetzt das knallige Rot der Wohnzimmerwände die fehlende Farbe im Leben der Koslowskis. Fazit: ein lebenskluger Film – nicht nur für die Weihnachtszeit.


Dieser Artikel stammt von http://www.tittelbach.tv/programm/fernsehfilm/artikel-5683.html

Rainer Tittelbach arbeitet als TV-Kritiker & Medienjournalist. Er war 25 Jahre Grimme-Juror, ist FSF-Prüfer und betreibt seit 2009 tittelbach.tv. Mehr


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„Alle Nadeln an der Tanne“
ZDF / Fernsehfilm / Tragikomödie
EA: 17.12.2020, 20.15 Uhr (ZDF)
Mit Anna Loos, Marcus Mittermeier, Simon Schwarz, Jana Münster, Leo Bilicky, Michele Cuciuffo, Bettina Mittendorfer, Michael A. Grimm, Despina Pajanou, Mariam Hage
Drehbuch: Uli Brée, Rupert Henning
Regie: Mirjam Unger
Kamera: Sebastian Thaler
Szenenbild: Patrick Steve Müller
Kostüm: Petra Hanslbauer
Schnitt: Benedikt Rubey
Musik: Iva Zabkar
Redaktion: Katharina Görtz, Nina Manhercz
Produktionsfirma: Conradfilm, Bavaria-Fiction – Marc Conrad, Maren Knieling